Kurt Eisner
Kulturstiftung
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Preisträger 1993: Christian Boltanski



Christian Boltanski - über die Kunst als Kunst


Meiner Meinung nach muß eine Form sich beständig entwickeln, denn sie ist, einmal als "künstlerisch" erkannt, nicht mehr in derselben Art und Weise deutbar. Gleichwohl ist sicher, daß man sich immer weiterentwickelt, daß die Welt sich weiterentwickelt, daß sich die Geschichte im Tun eines jeden Menschen widerspiegelt. Die Situation 1969 unterscheidet sich gänzlich von der heutigen. 1969 erlebte die westliche Welt einen großen Umbruch: in Frankreich gab es den Mai '68, in den USA die Hippie-Bewegung, und es entstand eine Friedensbewegung gegen den Krieg in Vietnam, die Intellektuellen sahen sich am Vorabend einer kulturellen Umwandlung, die an eine soziale Evolution gekoppelt schien ... Heute haben die Ideologen ihre Durchschlagskraft verloren. Wir glauben nicht mehr an einen Vorabend der Revolution, denn wir leben in einem Klima der Ungewißheit. Es ist also normal, daß sich viele Künstler von dem, das mir heute als optimistische Position erscheint, abwenden: Kunst zu erklären und zu theoretisieren oder anonyme Strukturen finden, um die allgemeinen Lebensbedingungen zu verbessern. Sie haben sich in mehr "schizophrene" Meinungen geflüchtet: die Realität anzulehnen und sich dem Traum hinzugeben.

Heute - und das war schon immer meine persönliche Meinung - glaube ich, will die Kunst das Leben gar nicht mehr beeinflussen. Kunst ist nicht mehr Kunst, die Malerei erleidet die Welt, aber sie hat keine Wirkung mehr auf sie. Und dennoch bleibt die Kunst das Beste, was es in dieser schrecklichen Welt noch gibt ...


Mir bleibt als einziger Ausweg, zu Hause zu bleiben, mich um mich selbst drehend am Boden zu scharren und hübsche Bildchen anzuschauen.

Abgedruckt in: Kat. C. B., Centre Georges Pompidou, Paris 1984
Aus dem Französisdien von Anne Maier-Rokowski
hier zitiert nach: Neue Zeitung Nr. 3 vom 8. November 1993 , herausgegeben von der Kurt Eisner Kulturstiftung
zur Preisverleihung an Christian Boltanski am 8. November 1993 in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München.







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